Zielgruppe ‚eh alle‘ – Warum das in der Buchwelt eine fatale Fehlkalkulation sein kann
Mit einem Text möchte ich jemanden erreichen; das ist die Zielgruppe im Fachjargon. Egal, welcher Text das genau ist, ob eine kurze Nachricht, ein Sachbuch oder ein Roman, die Zielgruppe ist für alle zentral. (Oh, da habe ich einen Reim fabriziert.) Dieses gar nicht so geheimnisvolle Wesen, die Zielgruppe, kann unzählige Personen umfassen, oder auch nur ein einziger Mensch. Ein Liebesbrief, eine Einladung an die Freundin oder der gewünschte Bericht an den Chef oder die Chefin sind im Normalfall nur für ein Augenpaar bestimmt. Eine winzige Zielgruppe, wobei in diesen Spezialfällen der Begriff nicht mehr ganz so passend ist, würde ich einmal behaupten. Adressat wäre vielleicht besser als Zielgruppe.
Aber egal. Schon die Beispiele lassen erahnen, warum man sich als Autor*in mit der Zielgruppe genauer auseinandersetzen sollte. Und warum Masse nicht unbedingt Klasse ist. Zumindest nicht, wenn es um die Zielgruppe bei Büchern – sowohl für Fiktion als auch Non-Fiction – geht.
Zielgruppe oft nur im akademischen oder professionellen Kontext klar mitgedacht
Die Zielgruppe ist bei allen Textsorten relevant. Sie beeinflusst Inhalt, Komposition, Stil und so viel mehr. Sie sollte zumindest ihre Stellung bekommen, damit man mit einem Text ins Herz (und manchmal auch ins Hirn) der Zielgruppe trifft, eine starke Verbindung aufbauen kann. Bei Berichten oder Präsentationen im Business ist die Zielgruppe meist deutlich abgesteckt. Ihre zentrale Rolle ist unbestritten. Ähnlich verhält es sich im akademischen Kontext. Ein Essay, eine Bachelorarbeit oder Masterarbeit ist nicht so sehr für Familie und schon gar nicht für wildfremde Menschen gedacht, die sich außerhalb der Wissenschaft bewegen. Diese vorab klar definierte Zielgruppe macht es Schreibenden leichter, die Denkleistung ist schon vollbracht. Da heißt es nur noch Konventionen und Rahmenbedingungen beachten, damit die Zielgruppe zufrieden ist. (Und auf der Uni eine positive Beurteilung und/oder fachliche Anerkennung warten.)
Bei Sachbüchern oder Romanen ist die Zielgruppe als entscheidender Faktor noch nicht so klar präsent und oft nicht ausreichend fest in den Köpfen von Schreibenden verankert. Es gibt vor allem keine Vorgaben, die eins zu eins auf jedes Buch umgelegt werden können. Autor*innen müssen daher selbst aktiv über ihre Zielgruppe nachdenken. (Sollten sie jedenfalls.)
Wenig Treffer bei zu breiter Zielgruppe
Auf den ersten Blick erscheint eine allumfassende Zielgruppe erstrebenswert. Mehr ist mehr. Mir ist auch klar, dass man als Autor*in wahrscheinlich gerne möglichst viele Menschen erreichen möchte. Egal, ob ein Sachbuch oder Roman für sich selbst steht oder als Marketing-Instrument oder Ähnliches eingesetzt werden soll. Die Überlegung, dass Masse als Zielgruppe zu mehr Interesse führt, wird sich jedoch vielleicht sogar als Trugschluss erweisen. Das hängt schon mit uns Menschen selbst zusammen. Wir sind alle unterschiedlich, haben eine eigene Sicht auf die Welt, eigene Vorlieben. Alle als Zielgruppe zu erreichen, ist daher fast unmöglich. Das zeigt etwa die sportliche Variante wunderbar: Zu viele Pfeile sind sich oft gar im Weg, können keinen siegbringenden Treffer landen, die (Darts?-) Scheibe bleibt vielleicht ganz leer. Zu viele Pfeile, die auf eine zu breite Zielgruppe ausgerichtet sind, können durch ein Wirrwarr an Signalen das Verständnis bei Leser*innen erschweren. Ihr Interesse kann schnell schwinden, wenn sie sich nicht abgeholt oder gefesselt fühlen, das Lese-Erlebnis negativ beeinflussen.
Eine zu breit gedachte Zielgruppe kann dazu beitragen, dass weniger begeisterte Leser*innen hängen bleiben. Wenn einige gar unzufrieden zurückgelassen werden, kann es sein, dass sie wenig Sterne oder Punkte vergeben, negative Rezensionen schreiben. Eine abschreckende Wirkung auf weitere potenzielle Leser*innen par excellence.
Zielgruppe ist mehr als Alter, Geschlecht und Herkunft
Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass für die Überlegungen zur Zielgruppe einer oder mehrere der typischen Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Herkunft relevant sein können. Mir geht es vielmehr darum, den Horizont zu erweitern. Anzuregen, dass für die Zielgruppe eine Reduktion auf diese Faktoren zu eng werden kann. Oder genauso zu breit. Was ganz allgemein gilt, hat logischerweise auch hier Einfluss, sollte für die Wahl der Zielgruppe unbedingt im Kopf behalten werden. Die Gruppe von 29- bis 49-jährigen Männern aus Österreich ist genauso wenig homogen wie Frauen ab 50 aus der Schweiz oder Jugendliche aus Berlin. Jede einzelne Person, die alle Bedingungen erfüllt, ist trotzdem nicht komplett gleich wie die anderen aus dieser vermeintlich ausreichend eingegrenzten Zielgruppe.
Konzentriert sich man sich für die Zielgruppe zu sehr auf Konzepte wie Alter, Geschlecht und Herkunft, kann sie als Instrument ihr volles Potenzial vielleicht nicht ausschöpfen. Regionalkrimis etwa können ja Urlauber*innen oder Reisesüchtige genauso anlocken wie Bewohner, die den Schauplatz eines Buches als ihre Heimat betrachten. Vielleicht hat jemand auch einfach nur ein Faible für Lokalkolorit jeglicher Art. Das ist jetzt bloß ein offensichtliches Beispiel, für das das Festkleben an einer bestimmten Herkunft für die Zielgruppe zu eng gefasst sein könnte.
Zielgruppe vielschichtig denken
Die Zielgruppe zu stark anhand von stereotypischen Kategorien zu definieren, kann mitunter vom Erfolgsweg wegführen. Mit viel Gespür heißt es daher, sich genau zu überlegen, für wen man denn ein Buch eigentlich schreibt; außer vielleicht rein für sich selbst, was genauso legitim ist. (Oder auch einen kürzeren Text.) Für Menschen, die Humor lieben? Für Personen, denen Ernsthaftigkeit wichtiger ist, die bei gewissen Themen Witze gänzlich ablehnen? Darf es Slapstick sein oder schwarzer Humor? Ist es zu viel des Guten oder zu wenig spitz, könnten Leser*innen schnell enttäuscht oder gar wütend reagieren. Vielleicht kennen Sie das ja aus der Publikums-Perspektive, dass Sie gar nicht genug von Situationskomik bekommen können oder zu viele Schenkelklopfer-Passagen zur Übersättigung führen. (Ich spüre bei Letzterem schnell ein leichtes Unbehagen in der Magengegend, ein nervöses Zittern. Inständig hoffe ich dann, zumindest wenn mir Autor*innen sympathisch sind, dass die Klischees bald weniger werden, Subtilität Einzug hält und mehr Balance herrscht. Manchmal werde ich enttäuscht und es geht genauso peinlich weiter. Dann rolle ich innerlich die Augen, manchmal sogar wortwörtlich. Vielleicht bin ich dann nicht die Zielgruppe, habe aber kein klares Signal vom Autor / von der Autorin für diesen Umstand erhalten. Eine solche Unzufriedenheit mit Stil und / oder Inhalt hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack und gibt Sternchen- oder Punkteabzug.)
Das sind noch längst nicht alle möglichen Fragen zur Zielgruppe, wie Sie sich vermutlich schon gedacht haben. Also weiter: Ist die Zielgruppe eher pessimistisch eingestellt oder optimistisch? Sogar Hobbys und Interessen können eine Bedeutung für die Überlegungen zur Zielgruppe haben. Katzenmenschen bevorzugen vielleicht Geschichten rund diese unwiderstehlichen Vierbeiner, um ein Holzhammer-Beispiel zu nennen. Des Weiteren: Möchte ich vor allem Menschen erreichen, die sich mit einer bestimmten Thematik schon auseinandergesetzt haben oder selbst Betroffene sind? Sind in meiner Zielgruppe sogar größtenteils Expert*innen? Oder möchte ich Neues vorstellen und erklären, wie es funktioniert?
Es gibt wahrscheinlich noch zahlreiche Aspekte, die man in die Überlegungen zur Zielgruppe einfließen lassen könnte. Und sollte. Der Denkprozess kann am Beginn schon etwas ausufern, ist aber wichtig.
Zielgruppe als Leitfaden zum Ziel
Bei Romanen oder Sachbüchern ist die Relevanz einer klar abgesteckten Zielgruppe vielleicht nicht ganz so stark im Bewusstsein verankert wie im professionellen oder akademischen Kontext. Das sollte sich aber rasch ändern. Die Zielgruppe und das Schreiben im Hinblick auf Erwartungen und Wünsche der Zielgruppe hat Auswirkungen darauf, was ein Buch, Ihr Buch, erreichen kann. Was es bei Leser*innen hervorrufen kann. Verstanden werden. Ankommen. Begeisterung auslösen. Berühren. Oder etwas anderes. Ziele sind individuell. Ohne Abstimmung auf die Zielgruppe könnten sie leicht verfehlt werden. Mit der greifbaren Zielgruppe im Kopf als Kompass, kann ein Buch die richtigen Leser*innen treffen, wird eher hängen bleiben. In positiver Art und Weise. Und nicht nach dem Motto: „So nicht, ab in den Mülleimer damit und maximal ein Stern!“
Fazit
Vielleicht funktioniert die Analogie zu Wurfsportarten und Ähnlichem in der Praxis nicht wie erhofft. Auf diesem Gebiet bin ich leider keine Expertin. Die Bilder von Pfeilen, die treffen und sich nicht gegenseitig abschießen, skizzieren die Relevanz der Zielgruppe aber auf jeden Fall. Zu viel, zu breit kann kontraproduktiv sein. Je genauer die Überlegungen zur Zielgruppe passieren, desto höher ist die Chance, ein literarischer Amor zu werden, sprich ins Herz und/oder ins Hirn der Leser*innen zu treffen. Berührt, empfinden sie das Lebe-Erlebnis positiv, ganz ohne rosarote Brille. Die braucht die Zielgruppe nicht, sieht die herausragende Qualität eines Textes, wenn sie sich angesprochen fühlt. Und im Idealfall hinterlassen begeisterte Leser*innen dann nette Worte oder betreiben Mundpropaganda, weil sie so beeindruckt von Ihrem Buch sind. (Manche vielleicht sogar verliebt sind, wenn ich mir die Übertreibung erlauben darf.)
(Der Vollständigkeit halber: Das gilt nicht nur für Romane und Sachbücher. Sich an der Zielgruppe zu orientieren, ist sowohl im Business als auch in der Wissenschaft vorteilhaft, oft gar notwendig. Stichwort professionelle Arbeit und Anerkennung, oder positive Beurteilung.)
Die nackte Wahrheit: Die Zielgruppe sollte wohlüberlegt sein, viel konkreter als „eh alle“. Sonst kommt es bei Leser*innen schnell zur Ernüchterung und Enttäuschung. Am Ende wartet dann nur der Mülleimer, was schade ist.