Zielgruppenfail? – Wie die Verbindung zu Leser*innen (nicht) klappt
„Guten Tag!“ Ja, höflich ist sie, die Anrede. Aber mit bitterem Beigeschmack. Sie ist einfach eine Floskel, die nicht auf Empfänger*innen beziehungsweise die Zielgruppe zugeschnitten ist. Da ich nicht sofort die Böse sein will, lese ich die Nachricht in meinem Posteingang. Es bewirbt sich jemand offiziell als freiberuflicher Zulieferer mit Maschinellen Übersetzungen und Post-Editing. Außerdem mit einigen Leistungen, die ich selbst vielleicht sogar besser, jedenfalls mit mehr Gefühl für Sprache und Zielgruppe, abdecke („Lektorat“) oder die für mich nicht gerade interessant sind.
Profis als Unterstützung – aber nur mit gutem Gefühl
Ja, für ganz wichtige Texte hole ich mir Profis, die zumindest mit Korrektorat unterstützen und/oder mit Feedback. Da suche ich als Autor*in (oder als Ghostwriterin oder Lektorin) aber Personen aus, bei denen ich fachlich und persönlich ein gutes Gefühl habe. Ein solches gutes Gefühl möchten auch Leser*innen haben, wenn sie sich für ein Buch oder einen Beitrag entscheiden. Das haben sie, wenn es sich wie Heimkommen oder Verstandenwerden anfühlt.
Wenn nicht, ist die Chance groß, dass sie das geistige Produkt nicht kaufen und/oder nicht lesen. Oder schlechte Rezensionen hinterlassen; vernichtende, wenn sie selbst recht kreativ sind.
Gutes Gefühl durch gezielte Ansprache
Ein gutes Gefühl kann sich eher einstellen, wenn wir Menschen uns angesprochen fühlen. Wenn wir abgeholt werden. Emotional, persönlich oder sachlich. Wenn wir uns verstanden oder zumindest gesehen fühlen. Ist eine Nachricht aber generisch und trifft unsere Bedürfnisse nicht, kann sich kein gutes Gefühl einstellen. Wie bei der Bewerbung in meinem Posteingang – entweder sieht mich der Absender als Riesenkonzern mit shitty Massenabfertigung oder hat einfach eine 08/15-Nachricht an unzählige Dienstleister*innen verwendet. Ein klassisches Massenmail. Oder, im größeren Kontext, halt Retortenbücher und/oder Retortengeschichten, die eigentlich auf niemanden wirklich zugeschnitten sind, niemanden ins Herz treffen. Da können nicht allzu viele Sterne auf diversen (Lese-)Plattformen vergeben werden …
„Meine“ Wünsche und Bedürfnisse als Leser*in werden berücksichtigt
Für wen schreibe ich? Das ist eine zentrale Frage für Autor*innen. Was wünschen sich die Personen, für die ich schreibe(n möchte)? Welche Bedürfnisse haben sie? Je genauer diese im Kopf erscheinen, desto besser können sie in Texte und vor allem schon in die Texte, die auf die Geschichte(n) aufmerksam machen, eingewoben werden. Sie signalisieren: „Ich als Autor*in weiß, was dich als Leser*in interessiert, was dich herausfordert, was du möchtest und brauchst.“ Vielleicht kann ich sogar Lösungsansätze bieten – vor allem im Sachbuch, aber eigentlich genauso in Romanen. Durch das Ansprechen bestimmter Themen, die für die Zielgruppe relevant und/oder spannend sind, fühlt sich diese eher bestätigt, zum Nachdenken angeregt und auf jeden Fall besser abgeholt als bei so mancher Spam- oder gar Scam-Nachricht.
Negativbeispiel – so kann eine Geschichte/Nachricht nicht treffen
Wenn eine Nachricht/Geschichte nicht klar adressiert ist, kann sie nicht treffen
Ja, sorry. Das Negativbeispiel, das nicht trifft, muss jetzt sein. Schließlich hat es mich inspiriert, noch einmal ein Plädoyer zu schreiben, wie wichtig es für uns Autor*innen ist, die Zielgruppe zu erkennen und immer im Blick zu haben. Spammer oder Scammer haben das meist nicht. Genau deshalb sind sie oft leicht als solche zu entlarven und nerven noch mehr. Könnte man Negativbewertungen abgeben für deren Texte, würde ich das sofort tun. Und ihnen sagen, dass ich nicht zu ihrer Zielgruppe gehöre …
Dem authentischen Negativbeispiel möchte ich viel Raum widmen:
An die falsche Tür anklopfen (also nicht bei der richtigen Zielgruppe)
Dass eine Personalvermittlung bei einer One-Woman-Show im Bereich geistiger Dienstleistungen anklopft, ist schon eher seltsam. Noch verwunderlicher ist ihr Angebot an eine Lektorin und Ghostwriterin: „Fahrer, medizinisches Personal, Lieferanten, Kellner, Produktionsmitarbeiter in Fabriken und viele weitere“. Kein Scherz, das stand wirklich so in der Nachricht.
Leistungen, die ich nicht brauche, weil ich nicht Zielgruppe bin
Aber wozu sollte ich diese Arbeiter*innen brauchen? Zum Servieren der Drinks, wenn ich mit einem Text kämpfe? (Fürs Protokoll: Nein, ich trinke natürlich keinen Alkohol während der Arbeit.) Zum Reanimieren, wenn jemand bei Korrekturen umkippt? Das sollte ja eigentlich nicht passieren, denn ich arbeite immer so, dass alle Änderungen nachvollziehbar sind und abgelehnt werden können, wenn sie nicht stimmig sind. Kein Grund für medizinische Notfälle also. Und das Liefern der Produkte, also der von mir bearbeiteten oder verfassten Manuskripte, übernimmt im Regelfall die elektronische Post. Nicht einmal in ausgedruckter Form wäre dafür ein Lieferwagen samt Fahrer notwendig. Ich bin nicht die Zielgruppe für diese Leistungen.
Die Arbeitskräfte sind aus „Bangladesch, Indien, Nepal, Georgien, Myanmar, Moldawien, Sri Lanka, den ehemaligen jugoslawischen Ländern und vielen weiteren“. Das ist schön und gut, sie erfüllen aber meine Bedürfnisse überhaupt nicht. Nein, danke. Ich brauche kein Personal, das nur Aufgaben macht, die meinen Alltag nicht erleichtern, nichts zu meiner Arbeit beitragen. Ich bin nicht die Zielgruppe für diese Art von Leistungen.
Positive Verbindung mit der Zielgruppe herstellen
Wichtig ist es, bei der Zielgruppe anzudocken, eine positive Verbindung herzustellen. Nicht die Gießkanne auszuschütten. Nicht einfach irgendwie drüberzufahren – eben nichts zur Verschönerung, Bereicherung oder Erleichterung des Alltags beizutragen. Massenmails und Spam-Nachrichten sind keine geeigneten Beispiele für die Best Practice, um eine positive Verbindung aufzubauen. Denn da kommt es gefühlt immer vor, dass der Bedarf nicht erfasst wird, nicht einmal am Rande, weil sich die Verfasser*innen gar nicht mit der Empfängerin / dem Empfänger auseinandergesetzt haben. Nicht gesehen haben, dass sie/er eigentlich nicht zur Zielgruppe gehört oder eben ein anderer Aspekt als Anknüpfungspunkt wichtiger gewesen wäre. So kann sich keine positive Verbindung aufbauen, die Abneigung wird spürbar. Im ganzen Körper. Und die Versuchung übermächtig, den Text zu löschen oder, wenn möglich, dem Unmut darüber Luft zu machen.
Bei Geschichten, die eben keine positive Verbindung herstellen können, kann das heißen, dass negative Worte als Feedback hinterlassen werden. Die vielleicht weitere potenzielle Leser*innen abschrecken.
Anregungen für die positive Verbindung zur Zielgruppe
Wie es gelingen kann, sich positiv mit der Zielgruppe zu verbinden, dazu möchte ich ein paar Anregungen geben. Vielleicht ist es nicht mehr notwendig, und die Negativbeispiele waren schon anschaulich genug. Aber trotzdem möchte ich es versuchen; muss ja nicht mehr gelesen werden, wenn der Bedarf nicht mehr vorhanden ist.
Zielgruppe im Kopf haben
Je genauer die Zielgruppe im Kopf erscheint – vielleicht ja sogar schon als Avatar, desto weniger Inspiration braucht es. Das ist übrigens schon mal ein Tipp. So könnte man – ähnlich wie bei einem Charakterbogen für eine Figur – eine Art Avatar für die ideale Leserin / den idealen Leser als Vertretung für die Zielgruppe erstellen und sich daran orientieren. Ein anderer Anhaltspunkt sind Herausforderungen und Wünsche der Zielgruppe. Oder einfach nur das alltägliche Leben: Wie sieht das aus, was ist für die Zielgruppe wie Heimkommen, also bekannt, was neu und aufregend? Also nur so aufregend, dass es nicht komplett überfordert oder gar verwirrend ist. Wie spricht die Zielgruppe? Was mag sie, was nicht?
Feldforschung und Fragen an die Zielgruppe
Ja, das sind wirklich nur ein Bruchteil der Fragen, die es sich lohnt, zu fragen. Für die Antworten darf schon mal ein wenig recherchiert oder direkt mit der Zielgruppe geplaudert werden. Da bieten sich Umfragen auf Social Media an. Für mehr Details können hier Testleser*innen zumindest für Teile ebenso wertvollen Input geben. Denn mit Feedback der Zielgruppe, das Einfluss auf die Geschichte hat, können Leser*innen gezielter angesprochen werden, eine positive Verbindung ist wahrscheinlicher.
Bitte nicht wie Spammer!
Und eben nicht so wie bei gefühlt allen Nachrichten von Spammern und Scammern, die niemals treffen können. Niemals, weil keine geistige Auseinandersetzung mit der Zielgruppe stattgefunden hat. Nach dem Motto: Irgendwer wird den – auf gut Österreichisch – „Schas“ schon brauchen. Die Massenabfertigung zeugt aber nicht davon, dass die Wünsche und Bedürfnisse gesehen wurden. Da stellt sich kein positives Gefühl ein. Nicht einmal für den Fall, dass eine Leistung, ein Buch oder eine Geschichte im Kern doch interessant wären.
Fazit:
„Auf Wiedersehen.“ Ja, die Verabschiedung ist höflich. Aber reicht das aus? Ich kann nur hoffen, dass in meinem Beitrag ein paar spannende und hilfreiche Anregungen dabei waren, die zumindest ein Bewusstsein für die Bedeutung der Zielgruppe geschaffen haben.
PS: Für mehr Details zu relevanten Aspekten und Fragen zur Zielgruppe habe ich mir auch im Beitrag „Zielgruppe ‚eh alle‘ – Warum das in der Buchwelt eine fatale Fehlkalkulation sein kann“ Gedanken gemacht.